ADVENT IM TREND

Auch heute wieder ein Adventsbulletin von Morris zur freundlichen Kenntnisnahme gegeben.
Das Gedicht ist übrigens echt. Habe die etwa 30 Jahre alte Handschrift selbst in Augenschein nehmen dürfen.

Schnipp
Man mag es kaum glauben, aber es gibt sie noch, die gute Nachricht:
„Mehr als 90 Prozent der Weihnachtsbäume in Deutschland stammen nach Einschätzung des Verbraucherministeriums aus dem Inland. Die Angebote aus dem benachbarten Ausland seien wegen der gestiegenen Transportkosten, aber auch wegen des professionelleren Anbaus in Deutschland leicht rückläufig.“ (Berliner Zeitung, 4./5.12. 2004)
Denn was sich hier andeutet, ist vielleicht, ja vielleicht nur ein kleiner Schnitt für die Zukunft, jedoch ein großer für ihren Standort. Ein Symbol auch dafür, daß die desolate Situation in der Heimat endlich an der richtigen Wurzel gepackt wird - die deutsche Tanne ist wieder wer im eigenen Land. Es geht aufwärts, man darf das endlich wieder so sagen. Und so bringt der Advent leise den Deutschen ein bißchen was von sich selbst zurück. Bald wird es schneien, die Mädel vermissen ihre Puppe, die Buben ihren Bären, und wer kann jemals den Glanz in Kinderaugen vergessen, wenn es heißt: leckere Bratäpfel. Man mag wieder gern hier leben. Und es muß sich niemand schämen, laut und mit Stolz zu verkünden: der Trend geht zur Zweittanne!

Auch im Trend: Politik goes Verdrossenheit.

Es war ein hartes Jahr für alle Demokraten, selbst für die Demokraten unter ihnen. Die Füße waren müde von den ganzjährigen Maidemonstrationen. Ein Bildungsnotstand machte von ihn reden. Tausende Wahlzettel in Sachsen und Brandenburg wurden „versehentlich“ an Trolle verteilt. Der tote Philosoph Wittgenstein („Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“) wurde von Jürgen Rüttgers öffentlich widerlegt: „Kommunalwahlen sind Kommunalwahlen, aber das ist eine Wahl.“ Der einheimische Kiefernmarkt wurde (beinahe) von billigen ausländischen Produkten überschwemmt. Der neugewählte Bundespräsident merkte plötzlich, daß er nicht auf dem Klo, sondern in einer Pressekonferenz saß. In Berlin gab es täglich zwei neue Fälle von Syphilis. Ausländische Tannen verwüsteten in Sachsen und Brandenburg ganze Landstriche. Daraufhin erklärten ihren Rücktritt: Friedrich Merz, weil er lieber was „mit Schmollen oder Bäumen“ tun wolle (jeder dritte Weihnachtsbaum in Deutschland kommt wie Merz aus dem Sauerland), sowie Ödo und Blödo Buchenwald, die zusammen mit ihrem Onkel Blockwart mal was „ganz anderes“ vorhaben. Wo man also auch hinsah, soviel Politikverdrossenheit „Royal“, daß man kaum noch Bildzeitung sein mochte, um es aufzuschreiben. Einmal sollte sogar der Bratapfel aus dem Emblem der Bundesrepublik entfernt werden. Glücklicherweise hat jede Wurst zwei Enden.

Voll im Trend: Glühwein goes Kopf.

Hat nämlich auch alles sein Gutes. Sind die Leut schlecht drauf vonwegen der Demokratie, dürfen es gern ein paar bunte Vorschläge mehr sein, für Deutschland. Otto Schily schlägt da z. B. die romulanische Verfassung vor. Joschka Fischer sich selbst („Ich bin ein Bratapfel. Äh pardon, ein Realo.“). Beide übertrifft noch Angela Merkel, welche sowohl sich selbst, als auch die romulanische Verfassung plus Tannenförderprogramme und Patriotismus einbringen möchte, weil es davon noch viel zu wenig hat. Mit ihrem Vorschlag einer Bürgerprämie bei Erwerb eines Zweitbaums hat sie der Regierung bereits gefährliches Profil bewiesen. Ähnlich wie Peter Struck, der, infolge der bekannt gewordenen Exzesse auf dem Bundeswehrmachtsmarkt, Roland Kochs legendäre „brutalstmögliche Aufklärung“ mit dem Versprechen von „rücksichtsloser Aufklärung“ spielerisch kalt stellte. Und damit die seinerzeit von Helmut Kohl selbstverschuldete Unmündigkeit der Deutschen beendete, wenn nötig totaler als das jemals jemand gewollt hatte.
Dem hatte die Opposition lediglich noch Günter Nooke entgegenzusetzen, der den schönen weihnachtlichen Begriff „Vaterlandsverräter“ reaktivierte, als sein Reichskanzler den Bratapfel aus dem Emblem der Bundesrepublik entfernen lassen wollte. Womit er sich zweifellos für etwaige kommende Aufgaben im exekutiven Bereich qualifiziert hat, wenn es vielleicht mal wieder, ähm, anders Advent wird.
Am inspiriertesten arbeiten zur Zeit aber wohl die Bezirksbürgermeister von Berlin Mitte und Kreuzberg, wenn sie für die Aktion „Bäckertüten gegen Gewalt an Frauen“ Bäckertüten gegen Gewalt an Frauen verkaufen. In ihrer Arbeitszeit
Man sieht: es wird Weihnachten.

All-time trendy: Schnipp goes Schnapp.

Im Advent versammelt sich der Deutsche gern. Vor allem, wenn er auf etwas aufmerksam machen will, wie z.B. auf sich. Dann analysiert er sein Elend, daß der Zweitbaum kracht. Und wenn ihm innerlich ganz warm geworden ist, dann brüllt er gerne: „Wir“ oder „Volk“ (Volksmund) oder er dichtet oder er macht das alles auf einmal („Weg mit Hartz vier / das Volk sind wir“). Ein Kulturvolk halt.
Wenn es ganz schlimm wird, geht im Erzgebirge die Junnghans Traudl zur Siegel Ella und sie lesen sich Gedichte ohne Lametta (volksmd. Für ironisch) vor, die verfaßt wurden, nachdem gerade ein brutaler Krieg verloren worden war, oder in der Blütezeit des Einwanderungslandes DDR oder später schon aus Gewohnheit. Für einen Moment erleichtert ihnen das bittere Lachen das Leben. Dann müssen sie wieder an den Ofen: Bratäpfel machen. Puppen flicken. Das Gedicht heben sie auf, falls es mal wieder gebraucht wird, vielleicht von Enkeln:

Neulich fragte mich jemand wie´s mir geht. Meine Antwort:
Vom Centrum – Kaufhaus komm ich her
Ich muß euch sagen, die Regale sind leer
Und überall auf Stufen und Kanten sitzen Polen
Mit ihren Verwandten
Und draußen vor dem verschlossenen Tor
Stehen die Deutschen geduldig davor.

Und als ich streifte am Markt vorbei
Da seh ich auch Leute aus der Tschechei
Sie haben gekauft und gefüllt ihre Taschen
Da gucken sie dumm – die deutschen Flaschen

Als ich heimfuhr mit dem Busse
Saß mir gegenüber auch noch ein Russe
Vor Wut ging ich dann in den Konsum
Und kaufte mir Käse
Da stand vor mir ein Vietnamese.

Ich stolperte zur Tür hinaus ich Armer
Und stieß zusammen mit einem Kubaner
Komm lieber Erich und sei unser Gast
Gib uns die Hälfte von dem was du hast
Der Pole hat Kohle, der Russe hat Licht
Wir haben die Freundschaft – mehr brauchen wir nicht!

Auf den Straßen große Löcher in den Läden leere Fächer
Zu Ostern keine Geschenke, zu Pfingsten keine Getränke
Zu Weihnachten keen Boom, zu Silvester keen Strom
In der H.O. keine Verwandten im Konsum keine Bekannten
Aus dem Westen kein Paket und da fragst du noch, wie es mir geht?


Nein, lieber nicht. Aber was vielleicht auch noch hilft: Einfach mal die Hand in den Po stecken und zur Faust ballen.

PS. Bemerkenswert: in Strophe drei denkt man kurz, daß der Faden verloren geht, aber es wird dann doch noch grandios gelöst.

PPS. Erich (in Strophe vier): volksmd. für „die da oben“

PPPS. Das mit dem Kubaner ist erfunden, oder?!

Schnipp

Aktuelle Beiträge

Umzug
Wer kann schon stillsitzen dieser Tage. Ich nicht!...
tristan - 1. Aug, 16:27
1000
Von Mecklenburg geht ja noch immer das höhnische...
tristan - 29. Jul, 21:48
van Gogh
Dass die taz gerne mal die Zeitung von morgen mit Nachrichten...
tristan - 27. Jul, 21:50
Spacequeens
Queens in Space II Bis Donnerstag treten die vier noch...
tristan - 25. Jul, 20:46
Auf einen Blick
Schon von weitem waren sie zu hören. Schröder, Fischer,...
tristan - 25. Jul, 20:22

Status

Online seit 7421 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 1. Aug, 16:27

Credits

powered by Antville powered by Helma


xml version of this page

twoday.net AGB


...damit wir leben koennen
abgeschlossenes Sammelgebiet
Agitprop
Best of
Betriebskreatur
Brigitte-Reimann-Allee
dampfender Hals
Eckermann!
Eigenwerbung
Flusen im Kopf
Fragen Sie ruhig
Fram
hmm
How to
ich sehe was
Istria revisited
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren